Interview mit Lilian Kojan und André Calero Valdez, den PreisträgerInnen des 1. Open Science Award der Universität zu Lübeck 2022 (in German)

Mit ihrem Projekt “Perceptions of behaviour efficacy, not perceptions of threat, are drivers of COVID-19 protective behaviour in Germany”, einer Untersuchung der sozialpsychologischen Vorläufer von Corona-Schutzverhalten, haben Lilian Kojan und André Calero Valdez aus dem Institut für Multimediale und Interaktive Systeme den erstmalig verliehenen Open Science Award der Universität zu Lübeck erhalten. Neben der Veröffentlichung als Open Access unter cc-by 4.0-Lizenz, Präregistrierung, Open Data und Open Code, hob die Jury insbesondere die eigens für das Projekt erstellte Website mit alternativen und weiterführenden Analysen hervor, die die Veröffentlichung über die Standards von Open Science hinausgehen ließe.

Wie stellen Sie sich selbst und Ihre Arbeit anderen Menschen vor?

Lilian: Ich promoviere im Bereich Sozialwissenschaften, konkret an der Schnittstelle zwischen Kommunikationswissenschaft, Sozialpsychologie und Gesundheitspsychologie. In meiner Promotion beschäftige ich mich mit der COVID-19-Pandemie. Ich möchte wissen, wie wirksam kommunikationsbasierte Interventionen sind, um Menschen zu Schutzverhalten zu bewegen. Spezifisch interessiere ich mich für Heterogenität in der Wirkung bezogen auf verschiedene Bevölkerungsgruppen, für die Langzeitwirkung von Interventionen und für die komplexe Rolle, die soziale Beeinflussung bei Schutzverhalten spielt.

André: Ich versuche zu verstehen, wie Technik gestaltet sein muss, damit ihre Verwendung sicher ist. Sicher für ihre Anwender:innen, für ihre Gesundheit, für die Umwelt, für die Gesellschaft. 

Was begeistert Sie an Ihrer Forschung?

Lilian: Ich liebe Forschung an sich als Weg, die Welt besser zu machen. Meine Forschung begeistert mich, weil ich es spannend finde, zu verstehen, womit und wie weit man menschliches Handeln beeinflussen kann. Wir alle wissen, wie schwierig es sein kann, das eigene Verhalten zu ändern – sei es, dass man mehr Sport machen möchte oder weniger Kaffee trinkt. Gerade Verhalten, die für die Gesundheit relevant sind, sind natürlich an einem Forschungsumfeld wie der Uni Lübeck spannend. Und genau da möchte ich wissen, was Kommunikation leisten kann – und was nicht.

André: Ich bin fasziniert davon zu verstehen, wie Mensch und Technik sich gegenseitig ergänzen können, um gemeinsam mehr zu leisten als jeweils allein. Dabei soll die Interaktion zwischen Mensch und Technik nachweislich Nutzen stiften. Um dies zu belegen, forschen wir theoretisch, empirisch, aber auch mit Simulationsmethoden. Dabei liebe ich es, Daten zu analysieren und Dinge (wie z.B. das Reporting) zu automatisieren. Für beides bietet die HCI-Forschung genügend „Spielwiese“. 

Wodurch ist Ihr Interesse für Open Science entstanden?

Lilian: Mein Doktorvater André hat von Anfang an einen Open-Science-Ansatz modelliert, beispielsweise mit der Idee einer Begleit-Website zu Artikeln. So etwas ermutigt implizit dazu, mehr Informationen über den Forschungsprozess zu präsentieren.

André: Mein Interesse für Open Science ist quasi nebenbei entstanden. Ich habe statistische Analysen schon seit längerem mit R durchgeführt, weil mir als Informatiker GUI-basierte Lösungen wie SPSS überhaupt nicht zugesagt haben. Ich wollte mit der Analyse anfangen, auch bevor Daten erhoben waren. Die R-Community hat einen starken Open Science Bezug. Viele Bibliotheken bieten Offenheit/Transparenz quasi kostenlos dazu. Auch Werte wie Reproduzierbarkeit oder Open Source sind ohnehin stark in der Informatik vertreten und da ist Open Science eine natürliche Erweiterung.

Warum haben Sie sich dafür entschieden, mit dem Projekt über die „klassischen“ Anforderungen von Open Science hinauszugehen?

Lilian: Das hat mehrere Gründe. Allen voran finden wir, dass sowohl im beforschten Themengebiet, also der anhaltende Corona-Pandemie, als auch in unserer Disziplin, den Sozialwissenschaften, Transparenz besonders wichtig ist. 

In der Corona-Pandemie gab und gibt es eine Flut von Veröffentlichungen mit teilweise widersprüchlichen Ergebnissen. Das ist besonders kritisch in der medizinischen Forschung, wenn aus diesen Ergebnissen Handlungsempfehlungen für die klinische Praxis oder auch die Gesetzgebung abgeleitet werden sollen. Aber auch Ergebnisse oder Empfehlungen aus dem Bereich der Sozialwissenschaften können weitreichende Folgen haben. So wurde beispielsweise auch in Deutschland viel über die Themen (Risiko-)Kommunikation und Information diskutiert. Um aufklären zu können, woher Widersprüche stammen und welche Ergebnisse tatsächlich wie anwendbar sind, muss der gesamte Forschungsprozess mit allen Entscheidungen und Annahmen transparent gemacht werden.

Wie stark die Auswirkungen von Vorannahmen und oft unbedeutend wirkenden Entscheidungen im Forschungsdesign und der Analyse sein können, zeigt auch die Replikationskrise in den Sozialwissenschaften. Deswegen fühlen wir uns als Sozialwissenschaftler*innen besonders dazu verpflichtet, transparent und offen mit unserer Forschung umzugehen. In der zunehmend wachsenden Anzahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen gewinnt außerdem die Synthese von Evidenz an Bedeutung. Ein Open-Science-Ansatz erleichtert diese Synthese immens. Wenn wir unsere Methoden, aber auch unsere Daten öffentlich machen, ist es außerdem für andere Wissenschaftler*innen viel einfacher, auf unserer Arbeit aufzubauen. 

 Werden Sie das auch in folgenden Projekten so anwenden?

Lilian: Auf jeden Fall. Zunächst mag es erscheinen, als ob so ein Prozess sehr viel Mehrarbeit verursacht. Aber auch für die eigene Forschung ist es sehr wertvoll, die eigenen Entscheidungen transparent zu dokumentieren. Und seit der Veröffentlichung habe ich die Projekt-Webseite selbst schon oft zum Nachschlagen verwendet.

André: Wann immer es die Umstände erlauben, ja! Es gibt auch Forschung, bei der sehr sensitive Daten verwendet werden. Hier müssten andere Methoden eingesetzt werden, um Reproduzierbarkeit zu ermöglichen (z.B. synthetische Daten, differential privacy). Diese sind dann nicht genauso „offen“, wie die hier angewendeten Methoden.

Was würden Sie in Bezug auf Open Science anders machen, an diesem, aber auch an folgenden Projekten?

Lilian: Ich würde vor allem versuchen, stetig die neuesten Fortschritte aus dem Bereich Open Science in neue Prozesse zu integrieren. Es gibt eine großartige Open-Science-Community, in der ständig neue Tools und Standards entwickelt werden. Das reicht von Updates in Software-Paketen, womit bestehende Prozesse gestreamlined werden können, bis hin zu neuen Standards beispielsweise zur Transparentmachung von Autorenschaft, womit neue Bereiche des Forschungsprozess in den Open-Science-Ansatz gebracht werden.

Macht Open Science Wissenschaftler*Innen das Leben leichter oder schwerer?

Lilian: Insgesamt leichter, wenn auch der Einstieg wie erwähnt erstmal mehr Arbeit verursachen kann, als man vom „klassischen“ Forschungsprozess gewohnt ist. Aber insgesamt bedeutet Open Science, dass wir alle bessere Wissenschaft machen können.

André: Schwerer für today-me, aber leichter für future-me. Insbesondere leichter für alle weiteren Wissenschaftler:innen.

Was sind Ihrer Meinung nach die 3 wichtigsten Tipps für Neueinsteiger im Bereich Open Science?

Lilian: Ob das die drei wichtigsten Tipps sind, weiß ich nicht. Aber ich finde es erstens hilfreich, auf Social Media Leuten und Organisation aus dem Open Science Space folgen, um aktuelle Diskussionen und Innovationen im Bereich Open Science mitzubekommen. Zweitens kann man sich als Einsteiger*in einmal durch ein bestehendes Open-Science-Projekt durcharbeiten. Was findet man gut und was ist anwendbar, was vielleicht weniger und warum? Was fehlt? Und drittens, bitte nicht von dem Berg an Mehrarbeit abschrecken lassen. Man muss auch nicht gleich alles anwenden, man kann schrittweise Teile des eigenen Forschungsprozesses „open“ machen. Und oft lassen sich Sachen auch automatisieren, sodass es beim nächsten Mal viel weniger Arbeit ist.

André: Die Webseite und YouTube-Seite vom OSF sind auch sehr gute Einstiegspunkte. Sich mit lokalen Communities wie der Open Science Initiative Lübeck zu beschäftigen ist ein sehr guter Tipp. Hier gibt es auch spannende Videovorträge.

Vielen Dank für das Interview!

Lilian Kojan hat an der RWTH Aachen Technik-Kommunikation studiert (Bachelor und Master), ist ehemalige Hilfskraft und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft. Seit Juni 2022 ist sie wissenschaftliche Beschäftigte am Institut für Multimediale und Interaktive Systeme der Universität zu Lübeck.

André Calero Valdez hat Informatik studiert und dann interdisziplinär in der Psychologie promoviert. Zuletzt ist er Nachwuchsforschungsgruppenleiter an der RWTH Aachen und akademischer Oberrat gewesen (seit 2018). Seit März ist er Professor am Institut für Multimediale und Interaktive Systeme an der Universität zu Lübeck.

Fotos: Guido Kollmeier; Rechte: Universität zu Lübeck

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